Montag, November 21, 2011

Fadenwurm

Vor ungefähr zehn Monaten war ich in Vélizy in der Nähe von Paris in einen Großeinkauf verwickelt, während ich laufend Textnachrichten von meinem Bruder, dem Wiener, bekam. Arsenal führte damals zur Pause in Newcastle mit 4:0, eine Stunde später bekam ich das kaum zu glaubende Endergebnis: 4:4.

Vorgestern war ich auch wieder auf Informationen aus Wien angewiesen, weil ich in Norwich war (dazu demnächst mehr), und so erfuhr ich, dass Hertha in Freiburg eine halbe Portion des damaligen (wie sich erwies: folgenreichen) Arsenal-Desasters geliefert hat: 2:2 nach 2:0 zur Pause, zwei verlorene Punkte, oder vielleicht doch ein gewonnener nach mehr als durchwachsener Leistung?

Ich habe das Spiel auf Hertha TV nachgeholt, und gewinne nach 13 von 17 Spielen in der Hinrunde den Eindruck, dass man in Berlin irgendwo unterwegs in diesem Herbst versäumt hat, der Saison eine neue, interessantere Definition zu geben. Denn Hertha steht jetzt wieder dort, wo sie schon so oft stand: Sie weiß wieder einmal nicht, wo sie steht.

Die positive Überraschung war doch, dass da ganz offensichtlich sogar mit diesem limitierten Kader angesichts einiger Hochbegabter ein wenig mehr möglich sein könnte, als nur Abstiegskampf. Offensichtlich ließ man aber einer nach außen hin sehr angebrachten Rhetorik der Selbstbescheidung auch nach innen eine Strategie der Selbstbeschränkung folgen, denn die Signatur der letzten Spiele ist doch insgesamt eine der Passivität - und auch der nicht genützten Chancen.

In Freiburg traf Hertha auf einen stark verunsicherten Abstiegskandidaten, dem sie aber in keiner Minute ein Spiel aufzuzwingen versuchte. Es war im Gegenteil ein unstrukturiertes Hin und Her zweier eher planloser Teams, bei dem die Berliner Basics in der ersten Halbzeit ein wenig besser funktionierten: Balleroberung, ein, zwei schnelle Zuspiele in die Spitze, eines davon führte in einer Koproduktion der beiden Berliner Topspieler Raffael (Pass) und Ramos (Lauf und Abschluss, fast eine Kopie des Tors gegen Gladbach) zum Führungstreffer in der 20. Minute.

Vor der Pause fiel nach einem so wohl eher nicht einstudierten Freistoß"trick" noch das 2:0 durch Niemeyer. All das veranlasste Thomas Kraft später, von einem "guten Faden" in den ersten 45 Minuten zu sprechen. Es war aber da schon der Wurm drin. Nach der Pause brachte der Freiburger Trainer Sorg den Offensivspieler Reisinger, über den er zu Recht anschließend sagte: "Er kann ein ganzes Stadion mitreißen." (Wer kann das eigentlich in Berlin?)

Coach Babbel brachte wenig später Lustenberger für Lasogga, und schickte Raffael auf die von Freiburg strategisch entblößte linke Berliner Offensivseite. Die symptomatische Szene des Spiels sah ich um Minute 55, als Kobiashvili an der eigenen Grundlinie Reisinger aussteigen ließ, dann mit dem Ball gut zwanzig Meter ging, das allerdings so inkonsequent und fadenscheinig, dass Reisinger sich den Ball an der Outlinie zurückholen konnte, zu großem Hallo des Freiburger Anhangs.

Diese Zerstreutheit des Berliner Spiels war ein generelles Charakteristikum. Sie war auch zu bemerken, als Flum nach einer Stunde zentral vor dem Berliner Sechzehner in aller Ruhe umständlich einen Seitenwechsel auf Reisinger ansetzen konnte, auf den dieser mit einem gewonnenen Zweikampf und einem satten Schuss in das lange Eck reagierte. Das war der Anschlusstreffer, auf den eine "abartige Energieleistung" (Marcus Sorg) des SC Freiburg folgte, die mit einem Treffer tief in der langen Nachspielzeit belohnt wurde.

Ich will gar nicht wissen (weiß es aber aus guten Berichten von Auswärtsfahrern), wie sich das vor Ort live angefühlt haben muss. Der Berliner Coach ließ es sich anschließend nicht nehmen, auch dieses Spiel "sachlich zu begutachten". Seine Einschätzung, er habe "zwei überragende Torhüter gesehen", muss im Falle von Thomas Kraft immerhin dadurch relativiert werden, dass der Berliner Schlussmann die Probleme in der Spieleröffnung inzwischen sehr weit nach hinten verlegt hat - sie beginnen nämlich häufig schon bei ihm, an seiner Verunsicherung im Spiel mit dem Fuß und generell an seinem Mitspielen wird zu arbeiten sein. Ich hätte gern gehört, was Christian Fiedler beim Verlassen des Badenova-Stadion zu ihm gesagt aus, der Gesichtsausdruck war jedenfalls streng.

Vier Spiele stehen noch aus bis Weihnachten, wenn daraus noch vier Punkte erwachsen sollten, könnte Hertha offiziell zufrieden sein - im Moment aber verdichten sich für meine Begriffe die Indizien dafür, dass Hertha nicht genau weiß, wo sie hingehört. Die Antwort darauf muss der Trainer geben, der gerade so wirkt, als könnte er vor lauter Sachlichkeit den Funken Leidenschaft nicht erzeugen, der seiner Mannschaft eindeutig fehlt.

1 Kommentar:

Natalie hat gesagt…

Vielleicht ist das der Punkt, wie schon im vorigen Beitrag, daß nämlich da ein Trainer wünschenswert wäre, der durch gelebte Leidenschaft der Mannschaft einen Ruck geben kann, wenn's eng ist oder wird. Aber die Defensiven sind halt keine "Spring-ins-Feld"er.