Samstag, April 30, 2005

Marcelo dos Santos Paraiba

In der "Berliner Zeitung" hat die Hertha es heute auf die Seite 3 geschafft. Das sagt viel über den neuen Stellenwert der Mannschaft. Michael Jahn, Verfasser des schon früher einmal empfohlenen Standardwerks über Hertha BSC (Verlag Die Werkstatt), hat ein Marcelinho-Porträt geschrieben. Hier der Text:

Was ist eigentlich die natürliche Haarfarbe Marcelinhos? Gute Frage: Seit Jahren schon ist sie nicht mehr zu sehen. Denn Marcelinho färbt sich die Haare, und man kann nicht sagen, dass es ihm dabei an Einfallsreichtum fehlt. Er hat sie rot getragen wie der Kobold Pumuckl und golden wie einen wertvollen Helm, auch violett und Schwarz-Gold-Rot hat er schon gewählt. Zurzeit trägt er silbergrau. In Wahrheit, so heißt es, sind seine Haare leicht gekräuselt und braun. Aber wer weiß das schon genau?
Es gibt viele solcher Geschichten über den Fußballspieler Marcelinho, über einen Mann, der für Hertha BSC Berlin die meisten Tore schießt, die meisten Vorlagen gibt. Der sich die meisten Eskapaden leistet. Und es gibt ein paar Leute, die ein bisschen mehr wissen über ihn. Man kann mit ihnen im Olympiastadion, auf Mallorca und in Berlin-Kreuzberg sprechen. Sie erzählen, was Marcelinho so besonders macht.
Alcir Pereira sucht eine Landkarte von Brasilien. Das Arbeitszimmer des Übersetzers und Dolmetschers in einem Altbau in Kreuzberg ist nicht besonders übersichtlich. Überall stapeln sich Faxe, überall liegen aufgeschlagene Bücher herum. Pereira, 39, findet den Atlas mit der Brasilien-Karte nicht. So malt er die Umrisse seines Heimatlandes mit dem Finger in die Luft. "Da oben", sagt er, "ganz im Nordosten liegt Fortaleza, meine Heimatstadt. Und nicht weit davon entfernt liegt Campina Grande. Dort wohnt Marcelinho." Der Dolmetscher und der Fußballstar von Hertha BSC sind also beide so genannte Nordestinhos, Nord-Brasilianer, und Pereira sagt, da, wo Marcelinho herkommt, sei die ärmste Gegend des Landes.
Auf dem Schreibtisch stehen zwei kleine Farbfotos in Bilderrahmen. Eines zeigt Pereira Arm in Arm mit Marcelinho und Luizao, einem Weltmeister, der mit wenig Erfolg für Hertha BSC gespielt hat. Auf dem anderen Foto lächelt Pereira zusammen mit einem weißhaarigen Mann in die Kamera. Der Mann ist Mario Jorge Lobo Zagalo. Er war mehrmals Fußball-Weltmeister mit Brasilien, als Spieler und als Trainer.
Pereira redet nicht gern über sich, er ist ein bescheidener Mensch. Aber er weiß, dass er ein wichtiger Mann geworden ist. Seit vier Jahren arbeitet er als Dolmetscher für Marcelo dos Santos Paraiba, genannt Marcelinho. Im Rundfunk und vor allem im Fernsehen ist Pereira die deutsche Stimme von Marcelinho, weil der 29jährige Fußballer, der zurzeit die gesamte Bundesliga verzückt, vor Kameras nur Portugiesisch spricht. Siebzehn Tore hat Marcelinho geschossen und dreizehn Treffer meisterhaft vorbereitet. Die Leichtigkeit seines Spiels begeistert.
Es gibt viele Leute, vor allem unter den Fans, die Pereira um seinen Job beneiden. Wohl niemand außer Marcelinhos Familie - Frau Estela, Tochter Vivian, Sohn Marcello und Mutter Elita, die gerade in Berlin weilt - darf ihm so nahe sein wie Pereira. "Wenn man in einem fremden Land ankommt, ist es wichtig, dass jemand da ist, der einen versteht und der auch die Mentalität begreift", sagt der Dolmetscher. Er war da, als Marcelinho vor vier Jahren nach Berlin kam. Er begleitete ihn zum Training, zu den Spielen, zur Mannschaftssitzung, zu den Interviews, zum Vermieter, zum Zahnarzt, zur Bank, zum Einkaufen und später auch zu Gesprächen mit Herthas Manager Dieter Hoeneß. Die waren immer mal wieder nötig, wenn Hoeneß dem Brasilianer nach Eskapaden ins Gewissen reden musste, etwa nach ausgedehnten Feiern im Berliner Karneval oder versäumten Trainingsstunden.
"Für mich ist Marcelinho inzwischen ein guter Freund", sagt Alcir Pereira, der mit seiner Frau und seinen zwei Kindern seit sieben Jahren in Berlin lebt. "Marcello und ich gehen zwar nicht so häufig zusammen aus, weil wir auch sehr unterschiedliche Interessen haben, aber unsere Kinder kennen sich, und wir besuchen uns auch." Und wenn Marcelinho im Supermarkt steht und nicht weiter weiß, dann klingelt das Telefon bei den Pereiras. Alcir Pereira sagt: "Marcello ist ein guter Mensch und sehr bescheiden. Bei seinen Erfolgen könnte er abheben. Das macht er aber nicht." Ein Widerspruch zum gelegentlichen Partyleben ist das nicht. Feiern gehört zu Marcelinhos Lebensgefühl und ist für ihn auch Abbau von Stress.
Berlin, Schenkendorff-Platz am Olympiastadion. Marcelinho hat seine golden glänzenden Fußballstiefel an. Sie sind federleicht. Sie wiegen nur 196 Gramm. Sportschuster aus dem italienischen Ort Montebelluno haben sie angefertigt und dem Brasilianer auf den Fuß geschneidert. Man merkt, er hat Spaß beim Training: Da ein Hackentrick, dort ein Übersteiger. Immer wieder drischt er den Ball Richtung Torhüter Christian Fiedler. Der muss einige Male hinter sich greifen und flucht. Trainer Falko Götz klatscht Beifall.
Am Rande des Übungsplatzes beobachtet Rudi Wojtowicz die Szenerie. Das kommt selten vor. Wojtowicz, 49, ein ehemaliger Bundesligaprofi, ist der Chefscout von Hertha BSC und sehr viel unterwegs. Er beobachtet Spiele und Spieler, fliegt quer durch Europa und häufig auch nach Südamerika. Bevorzugte Ziele: Brasilien und Argentinien.
Das Handy von Wojtowicz klingelt. Ein Informant ist dran oder ein Spielervermittler. "Wie lange hat der Vertrag?" fragt Wojtowicz ins Handy, "was soll der kosten? Eine Million? Oder zwei? Hat der einen EU-Pass?" Wojtowicz fahndet nach einem torgefährlichen Angreifer, so wie er einst vor sechs Jahren in Südamerika einen Stürmer suchte - und in Marcelinho einen Mittelfeldspieler fand, der wohl besser ist als jeder Stürmer. Der Chefscout war der erste Mitarbeiter von Hertha BSC, der Marcelinho in dessen Heimat in einem Spiel erleben konnte. Er war auch der erste, der direkt Kontakt mit dem Brasilianer aufnahm. "Als ich ihn zum ersten Mal sah, spielte Marcello fast einen Linksaußen", erinnert sich Wojtowicz, "er fiel aber sofort auf. Vor allem wegen seiner enormen Laufbereitschaft, die nicht typisch für Brasilianer ist, und durch sein hohes Tempo." Das war 1999, und der Scout hatte die Partie zwischen dem FC Sao Paulo und Atletico Mineiro gesehen. "Später", sagt Wojtowicz, "sind wir Marcelinho zu vielen Spielen hinterhergereist. Ich habe ihn mindestens ein Dutzend Mal gesehen."
Marcelinho aber ging damals zu Olympique Marseille in die französische Liga, wo er allerdings nie heimisch wurde. So fanden Hertha BSC und Marcelinho zwei Jahre später zueinander. 2001 war man sich handelseinig. Hertha ließ einen Arzt aus Berlin in Brasilien einfliegen, und nach der medizinischen Untersuchung setzte man die Verträge auf: auf Deutsch, Englisch und Portugiesisch. Später verkündete der Verein, Marcelinho habe eine Ablöse von 14 Millionen Mark gekostet. Rudi Wojtowicz ist noch immer stolz auf diesen Transfer, den Manager Dieter Hoeneß nach zähen Verhandlungen unter Dach und Fach gebracht hatte. "Der Marcello", sagt der Scout, "der war schon damals als Mensch so wie heute: offen, freundlich und ein Spaßvogel."
Balearen, Insel Mallorca. Jürgen Röber, 51, ist mal wieder auf die Insel geflogen. Der ehemalige Trainer von Hertha BSC wartet im Süden auf Angebote. Seit er im April 2004 beim VfL Wolfsburg entlassen wurde, ist Röber ohne Job. Ein bisschen Abwechslung bringt ihm in diesen Tagen einer seiner ehemaligen Spieler: Marcelinho. Journalisten aus Deutschland rufen an und wollen Röbers Meinung über den Ballvirtuosen erfragen. Schließlich war der Fußball-Lehrer der erste Trainer des Brasilianers, als dieser den Schritt nach Deutschland wagte. Man kann getrost davon ausgehen, dass Röber eine wichtige Bezugsperson für Marcelinho gewesen ist. Und der Trainer redet gerne über den Brasilianer. Ganz klar.
Er habe, erinnert sich Röber, Marcelinho vor dessen Verpflichtung nur auf einigen Videos gesehen. "Wenn er das wirklich bringt, was da zu sehen ist, dann muss man den unbedingt holen!" Das waren in etwa die Worte des Trainers, die er nach dem Studium der Videos zu Manager Hoeneß gesagt hatte. Die erste direkte Begegnung mit seinem künftigen Spielmacher endete für Röber fast mit einem Eklat. Marcelinho war über Sao Paolo, Frankfurt/Main und München nach Österreich gereist, wo Hertha BSC 2001 ein Trainingslager abhielt. "Nach solch einer Reise musst du doch mausetot sein", glaubte Röber. Marcelinho aber wollte sofort Fußball spielen. "Ich habe dann ein internes Trainingsspiel angesetzt. Hertha A gegen Hertha B. Und ich habe Marcelinho nach 30 Minuten ausgewechselt, weil ich glaubte, der sei total kaputt."
Röber hatte die Folgen nicht bedacht. Es gibt wohl nichts Schlimmeres für einen brasilianischen Fußballer, als vorzeitig vom Platz zu müssen. "Marcelinho war stinksauer auf mich und nur schwer zu beruhigen", sagt Röber. Mit etwas Abstand sieht der Trainer seinen ehemaligen Spieler nur noch in rosaroten Farben. "Der ist ein unglaublicher Fußballer." Auch Marcelinhos Abstecher ins Berliner Nachtleben sieht er mittlerweile gelassen. "Den Marcello, den musst du an der langen Leine lassen. Dann gibt er dir alles zurück." Das sensationelle Tor, das Marcelinho vor drei Wochen gegen den SC Freiburg erzielt hat - aus 48 Metern noch aus dem Mittelkreis heraus - das hat Röber im Fernsehen gesehen. "So was kann nur Marcelinho, einmalig." Künftig, sagt der Trainer, werde er wieder öfters ins Olympiastadion kommen. "Schon, um Marcelinho zu sehen."
Berlin, die Geschäftsstelle von Hertha BSC. Dieter Hoeneß besitzt ein Vorrecht, das er sich mit nur wenigen Leuten teilen muss. Marcelinho widmet seine Treffer manchmal Gott, manchmal auch ganz normalen Menschen. So etwa seiner Frau Estela, seinem Sohn Marcello junior oder auch Hertha-Kapitän Arne Friedrich. Nach dem 1:0-Sieg vor vierzehn Tagen beim Meister Werder Bremen widmete Marcelinho seinen Treffer - einen fulminanten Schuss - Assistenztrainer Andreas Thom und Manager Dieter Hoeneß. "Weil der sich immer um mich kümmert und mir immer hilft."
Hoeneß verbrachte in den letzten Wochen viel Zeit damit, die zahlreichen Probleme seines wertvollsten Spielers zu lösen. Und er verbrachte genauso viel Zeit damit, das Gleichgewicht zwischen Mannschaft und seinem Star in Balance zu halten. Nicht alle Eskapaden des Brasilianers wurden von den Mitspielern toleriert.
Zuerst waren es die finanziellen Probleme, die Marcelinho beschäftigten. Er war in seiner Heimat bei der Aufnahme von Krediten für den Bau von Häusern an windige Berater geraten. Später war er gar in der Halbzeit des Spiels bei Borussia Dortmund handgreiflich gegen seinen Kapitän Arne Friedrich geworden. Der hatte Marcelinho zuvor kritisiert. Und noch später gab es Turbulenzen, weil der Brasilianer in der Nähe des Kurfürstendamms eine Diskothek erwerben und betreiben wollte. Geplanter Name: 100% Marcelinho.
Hoeneß und Trainer Götz, den Marcelinho überschwänglich als seinen "besten Trainer überhaupt" bezeichnet, konnten die Probleme lösen. So weit es geht. Auch deshalb erleben sie wohl den besten Marcelinho, den es bisher gab.
Berlin-Kreuzberg. Alcir Pereira, der Dolmetscher von Marcelinho, lüftet noch ein kleines Geheimnis. Deutsch-Unterricht nehme der Profi schon lange nicht mehr. Aber er verstehe im Gespräch längst fast jedes Wort und könne sich auch in der deutschen Sprache ordentlich ausdrücken. Dazu müsse er aber erstens Lust haben, und zweitens müsse die Unterhaltung in ruhiger Atmosphäre stattfinden. Aber vor der Fernsehkamera, unter Zeitdruck, sagt Pereira, da habe Marcelinho noch immer ein Problem. Dort zeige er seinen wahren Charakter. "Eigentlich ist Marcelinho ein sehr scheuer Mensch."

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